Der Magische Farbkreis

Fixieren Sie das Bildzentrum, schauen Sie ohne Augen- und Kopfbewegungen durch das Bild hindurch und beobachten Sie das langsam entstehende kreisende Nachbild sowie das Verblassen der stationären Farbtupfer.

Ein kreisendes Nachbild über einer verblassenden Welt

Die Animation besteht aus 12 Standbildern mit einzelnen Radialverschiebungen der zu einem Farbkreis zusammengefügten Farbtupfer.

Es entstehen verschiedene Wahrnehmungseffekte, welche einige Details über die Funktionsweise unseres Sehsystems enthüllen:

1. Das plötzliche Verschwinden der einzelnen Farbtupfer löst auf der Netzhaut an dieser Stelle ein in der physikalischen Welt nicht existierendes negatives Nachbild aus.

2. Der radial verschobene Farbtupfer ist reell (physikalisch existent) und rotiert mit dem benachbarten virtuellen Farbtupfer (negatives Nachbild) im Kreis. Das Nachbild leuchtet in der Gegenfarbe des begleitenden Farbtupfers.

3. Die zeitlich und räumlich nur wenig verschobenen Nachbilder lösen im Grosshirn eine Bewegungstäuschung (Phi-Bewegung) aus.

4. Der restliche Farbkreis verblasst in der Wahrnehmung mit zunehmender Beobachtungszeit, falls es gelingt, den Kopf still zu halten und die Augenbewegungen zu unterdrücken (Troxler-Effekt).

Die negativen Nachbilder leuchten in der Gegenfarbe des fehlenden Objekts.
Beobachten Sie in der langsam rotierenden Farblücke der zweiten Animation nochmals ohne Zeitdruck das Aufleuchten des fehlenden Tupfers in seiner Gegenfarbe und vergleichen Sie diese mit der Originalfarbe des radial verschobenen, mitrotierenden reellen Farbtupfers.
Die Entstehung der negativen Nachbilder ist ein Netzhaut-Effekt. Zwei Indizien liefert dieses einfache Sehexperiment selbst:

1. Die Nachbilder entstehen auch bei relativ hohen Drehfrequenzen, so dass für die Entstehung eines einzelnen Nachbildes nur wenig Zeit bleibt. Eine Generierung dieses Effektes im Grosshirn wäre träger und würde mehr Zeit erfordern.
Das Memorieren eines virtuellen Farbtupfers beispielsweise setzt die Aktivierung des Kurzzeitgedächtnisses im Grosshirn voraus und benötigt mehr Zeit (mehr als 100 Millisekunden). Betrachtet man die schnelle Animation, so gelingt das Memorieren der einzelnen Farben der Nachbilder kaum, weil der Datenfluss ins Kurzzeitgedächtnis durch die rasche Folge von neuen Ereignissen gestört wird. Bei der langsamen Animation hingegen ist die Präsentationsdauer eines Einzelereignisses genügend lang, so dass man sich die Farben der einzelnen Objekte und ihrer Nachbilder gut merken kann.

2. Der Ort der Entstehung eines Nachbildes ist an die Netzhaut gebunden. Mit den Kopfbewegungen und den Augapfeldrehungen verschieben sich automatisch auch die Nachbilder.

Die einzelnen Farben der Nachbilder entsprechen nicht dem von Thomas Young und Hermann von Helmholtz entdeckten Dreifarbensystem unserer farbempfindlichen Rezeptoren, sondern dem bereits in der Netzhaut verschalteten Vierfarbensystem. (Die Nervenzellen der Netzhaut sind ins Auge verlagerte Hirnpartien und verarbeiten die visuellen Signale in einem mehrschichtigen neuronalen Netzwerk.) Die Gegenfarbe von Rot ist deshalb nicht ein sattes Grün, sondern ein ins Hellblaue verschobener Farbton. Beobachten Sie selbst.

Weshalb entstehen negative Nachbilder?
Die Fotopigmente der Netzhaut werden durch helles Licht gebleicht. Dieses Licht erregt die Rezeptoren. Weil ihre fotochemischen Substanzen nach einer anhaltenden Exposition sich regenerieren müssen, ist die Netzhaut an der betreffenden Stelle für das dargebotene Wellenlängengemisch vorübergehend weniger empfindlich. Beim Anblick von Grau haben nun die Wellenlängen der Gegenfarben einen effizienteren Wirkungsgrad und erzeugen an dieser Stelle der Netzhaut ein negatives Nachbild. In unserer visuellen Wahrnehmung entstehen normalerweise keine Nachbilder, weil wir unbewusst unsere Augen etwa dreimal pro Sekunde bewegen (Sakkaden). Das Ausbleichen der Fotopigmente oder mit anderen Worten die Adaption der Stäbchen und Zäpfchen kann sich nicht auswirken, denn die Netzhaut wird an jeder Stelle mit stets wechselnden Reizmustern belastet.

Die virtuellen Objekte, welche die fehlenden Farbtupfer ersetzen, werden vom Grosshirn wie reale Objekte behandelt.
Aus den diskreten Standbildern eines Objektes baut unser Grosshirn glücklicherweise einen kontinuierlichen Film. Diese Scheinbewegung ist unter dem Namen Phi-Phänomen bekannt. Der wahrgenommene schnelle Film der Nachbilder beweist, dass unser Bewegungssehen im Areal V5 nicht zwischen reellen Objekten (die radial nach innen verschobenen Farbtupfer) und virtuellen Objekten (die Nachbilder in den Lücken des Farbkreises) unterscheidet. Beide werden genau gleich verarbeitet.

Das Hirn akzeptiert auch die Farbänderungen der beiden Filmakteure. In der Natur können die Objekte bei wechselnder Beleuchtung ebenfalls ihre Farbe ändern und sollten dabei nicht ihre Identität verlieren. Diese so genannte Objektkonstanz bedingt ein fortlaufendes Auskorrigieren der sich ändernden Beleuchtung. (Solche Korrekturen machen inzwischen auch unsere Videokameras, indem sie einen periodischen Weissabgleich durchführen.)
Das für das Bewegungssehen zuständige Areal V5 ist ausserdem praktisch farbenblind und verarbeitet nur die Helligkeitswerte der einzelnen Schnappschüsse. Die Verarbeitung der diskreten visuellen Netzhautinformation zu einem kontinuierlichen Bewegungsablauf ist zum grössten Teil noch unklar und bleibt deshalb ein aktuelles Forschungsthema.

Stationäre konturlose Objekte verblassen in unserer Wahrnehmung
Wir haben unser Sehsystem von unseren tierischen Vorfahren geerbt. Es ist primär auf die Dekodierung von Objektbewegungen und nicht zum Betrachten von schönen Bildern und stationären Situationen ausgelegt. Objekte haben in der Regel Konturen. Diese werden mit Hilfe von richtungsempfindlichen Nervenzellen im V1 aufgespürt und im Raum sowie auf der Zeitachse weiterverfolgt. Mit der Fovea (dem winzigen, rund um die Sehachse zentrierten Netzhautbereich) können wir nicht nur scharf sehen, sondern auch Farbtonänderungen genauer auflösen und sogar stationäre verschwommene oder unscharfe Objekte registrieren. Wenn wir beim Betrachten der Animationen den kleinen grauen Kreis im Bildzentrum fixieren, wird nur dieser auf die Fovea abgebildet. Diese ist somit beschäftigt. Die unscharf dargestellten Farbtupfer müssen dann im peripheren Bereich der Netzhaut, welche weniger gut mit Farbrezeptoren bestückt ist und eine miserable Sehschärfe hat, analysiert werden. Wir können ausserdem die Objekte mit unseren tierischen Augen nur dann registrieren, wenn sie sich relativ zur Netzhaut bewegen. Falls sowohl die Augen- als auch die Kopfbewegungen unterdrückt werden, versagt in diesem Fall die Objektdekodierung mit der peripheren Netzhaut. Die überlagerten negativen Nachbilder neutralisieren die stationären Objektbilder, die real existierenden Farbtupfer verblassen, als ob sie nicht da wären (Troxler-Effekt). Unser Gehirn interpoliert die dadurch entstandenen Bildlücken in der Hintergrundfarbe und täuscht uns eine harmlose Situation ohne Farbtupfer vor. Davon ausgenommen sind die beiden im letzten Abschnitt beschriebenen kreisenden Objekte (ein reales und ein virtuelles), weil sich ihre Reizmuster relativ zur Netzhaut bewegen und eine neuronale Aktivität der Bewegungssensoren der Grosshirnrinde auslösen.

Ein Mensch mit fixiertem Kopf und blockierten Augapfelbewegungen erblindet mit geöffneten Augen, falls sich seine Umwelt nicht bewegt.