Rede Bundeskanzler Christian Stocker zum Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus und an die Beendigung des zweiten Weltkrieges

Am 8. Mai 2025 fand der Festakt zum Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus und an die Beendigung des Zweiten Weltkrieges in Europa im Bundeskanzleramt statt. Im Bild Bundeskanzler Christian Stocker. -- FotografIn: Andy Wenzel--Quelle:BKA
Am 8. Mai 2025 fand der Festakt zum Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus und an die Beendigung des Zweiten Weltkrieges in Europa im Bundeskanzleramt statt. Im Bild Bundeskanzler Christian Stocker. -- FotografIn: Andy Wenzel--Quelle:BKA

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren!
Verehrte Zuseherinnen und Zuseher!
Liebe Österreicherinnen und Österreicher und alle, die hier leben!

Mit dem 8. Mai 1945 fand das dunkelste Kapitel der österreichischen Geschichte sein Ende. Dieser Tag war Voraussetzung für die Entstehung unserer freien und unabhängigen Zweiten Republik. Wir erinnern uns heute voller Respekt an den schwierigen Neuanfang unserer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, die in einem endlich befreiten, aber auch zerstörten und vierfach besetzten Land unter größten Widrigkeiten und persönlichen Entbehrungen unsere Demokratie und unsere Rechtsstaatlichkeit aufgebaut haben. Mit Mut und Entschlossenheit.

Es ist schier unmöglich, passende Worte zu finden für die unsäglichen Gewaltverbrechen, für die Gräuel und Unmenschlichkeit der NS-Herrschaft.

Wir werden die Opfer dieser dunklen Jahre niemals vergessen. Über 65.000 österreichische Jüdinnen und Juden wurden im Holocaust ermordet. Wir erinnern an die Roma und Sinti, an die politisch Verfolgten, an Menschen mit Behinderungen, an Homosexuelle, und an alle, die durch das NS-Regime verfolgt, entrechtet, vertrieben, gequält und getötet wurden.

Wir gedenken der Hunderttausenden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die unter unmenschlichen Bedingungen ausgebeutet wurden – viele von ihnen haben diese Zeit nicht überlebt.

Wir erinnern an die zivilen Opfer des Krieges in unserem Land: Männer, Frauen und Kinder, die durch Kampfhandlungen und Bombenangriffe ums Leben kamen. Wir gedenken jenen, die sich dem Kriegsdienst für Hitlerdeutschland verweigerten oder später desertierten und dafür mit ihrem Leben bezahlt haben.

Wir erinnern auch an die vielen Österreicher, die als Soldaten im Zweiten Weltkrieg gefallen sind. Auch sie sind Teil unserer Geschichte, und es ist unsere Pflicht, die Geschichte in all ihrer Widersprüchlichkeit anzunehmen. Es geht dabei nicht darum Schuld zu relativieren, nein. Aber wir müssen das gesamte Ausmaß der Verbrechen begreifen, die im Namen des Nationalsozialismus begangen worden sind.

Unser Dank und Respekt gilt all jenen, die für die Befreiung Österreichs gekämpft haben, den Widerstandskämpferinnen und -kämpfern und allen, die sich der NS-Diktatur widersetzt haben. Sie haben für den Sieg über eine brutale Diktatur geprägt von Antisemitismus, Rassismus und Menschenverachtung tatsächlich geblutet. Und es war die Saat für die Wiedererstehung unseres Landes.

Meine Damen und Herren,
aus der Erinnerung erwächst Verantwortung.

Lange Zeit, ja viel zu lange Zeit, hat sich Österreich ausschließlich als Opfer der Nationalsozialisten gesehen. Viel zu lange wollten wir nicht sehen, was unübersehbar war: Denn viel zu viele standen im März 1938 jubelnd am Heldenplatz. Viel zu viele haben zugeschaut, weggeschaut und auch mitgemacht, als ihre Mitmenschen erniedrigt, vertrieben und ermordet wurden. Aber unsere Republik, wir haben – wenn auch sehr spät – daraus gelernt.

Heute bekennen wir uns vollumfänglich zu unserer Verantwortung. Diese Verantwortung bedeutet, uns offen und unvoreingenommen allen Kapiteln unserer Geschichte zu stellen. Den hellen wie den dunklen.

Diese Verantwortung bedeutet, dass „Nie wieder“ für uns Österreicherinnen und Österreicher mehr sein muss als eine Floskel. Sie ist Warnung und Auftrag zugleich. Gerade jetzt, wo wir sowohl in Österreich als auch weltweit einen ganz massiven Anstieg an antisemitischen Vorfällen verzeichnen.

Sehr geehrte Damen und Herren,
dagegen müssen wir immer und überall aufstehen. Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wenn sich Jüdinnen und Juden in Österreich und darüber hinaus nicht mehr sicher fühlen.

Der 8. Mai 1945 war eine entscheidende Zäsur in der Geschichte Österreichs. Die Entwicklungen von damals zeigen eindrücklich, dass unsere Demokratie, unsere Freiheit und unser Rechtsstaat keine Selbstverständlichkeit sind. Im Gegenteil: Sie sind ein ebenso wertvolles wie zerbrechliches Gut. Ein Privileg, das wir schätzen, hüten und verteidigen müssen.

Erinnern wir uns: Autoritäre Ideologien, Hass und Ausgrenzung hatten einst ein zu leichtes Spiel, als zu wenige den Mut hatten, dagegen aufzustehen.

Erinnern wir uns aber auch daran, dass viele Österreicherinnen und Österreicher aus allen weltanschaulichen Richtungen entschlossen waren, gemeinsam wieder Mut zu fassen, neu anzufangen, die richtigen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und diese Republik gemeinsam zu einer Erfolgsgeschichte zu machen. Sie hatten den geeinten Willen, über alle weltanschaulichen Grenzen hinweg gemeinsam für dieses Land zu arbeiten. Im Sinne einer Konsensdemokratie.

Und sie glaubten an ein freies und unabhängiges Österreich.

Sehr geehrte Damen und Herren,
wir sind heute eine gefestigte Demokratie, ein wohlhabendes und freies Land, ein sozialer Rechtsstaat und Teil eines vereinten Europa. Ehemalige Feinde wurden zu Partnern und Freunden. Und das ist gut so. Denn die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, können wir nur gemeinsam lösen.

Unser Europa, unsere Europäische Union, ist ein einzigartiges Friedensprojekt – ein Ergebnis jener Lehren, die aus zwei verheerenden Weltkriegen gezogen wurden.

Mit großer Demut und Respekt blicke ich auf meine Amtsvorgänger, die im Laufe der Jahrzehnte in der verantwortungsvollen Rolle des Bundeskanzlers oder der Bundeskanzlerin die Werte unserer liberalen Demokratie gestärkt und verteidigt haben. Damit haben sie mitgeholfen Österreich zu dem zu machen, was es heute ist:

Ein pro-europäisches Land mit höchsten Standards in Bezug auf Grund- und Freiheitsrechte.
Ein Land, in dem das Völkerrecht eingehalten und Verträge respektiert werden.
Und ein Land, mit einer engagierten Zivilgesellschaft und einer vielfältigen Kunst-, Kultur- und Medienlandschaft.

Meine Damen und Herren,
mit voller Überzeugung zähle ich mich zu den Österreicherinnen und Österreichern, die trotz der Herausforderungen unserer Zeit ganz nach Karl Popper die Zuversicht und den Optimismus zur Pflicht erklären.

Aber was bedeutet das ganz praktisch?

Österreich ist ein wunderschönes, lebenswertes und starkes Land. Und es liegt an uns allen, dass das auch so bleibt. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir alle Voraussetzungen dafür haben, um die Herausforderungen und Probleme zu bewältigen, die vor uns liegen. Gehen wir auf einander zu, hören wir einander zu, akzeptieren wir uns in unserer Verschiedenartigkeit.

Bemühen wir uns, Sorgfalt in der Sprache zu üben und die Kompromissfähigkeit als eine österreichische Tugend zu sehen und zu leben.

Akzeptieren wir niemals Intoleranz, egal in welcher Gestalt sie sich zeigt. Das ist die Verantwortung, die sich aus der Geschichte ergibt. Und sie ist eine, die jede und jeder wahrnehmen kann – ja sogar muss.

Nehmen wir daher unsere Verantwortung wahr und die Herausforderungen der Gegenwart an. Hüten und verteidigen wir unsere demokratische Republik wie einen Schatz, der uns anvertraut wurde.

Stehen wir füreinander ein und stärken wir, was uns verbindet.
Das ist unser Auftrag aus der Vergangenheit –
und unser Versprechen für die Zukunft!
Unser Versprechen an unsere Kinder und Enkelkinder!
Unser Versprechen für Österreich!
Vielen Dank.

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