AK-Präsident Dr. Johann Kalliauer: „Die soziale Dimension der Europäischen Union muss deutlich gestärkt werden“

AK-Präsident Dr. Johann Kalliauer - Foto Arbeiterkammer O?-
AK-Präsident Dr. Johann Kalliauer - Foto Arbeiterkammer O?-

Der Beitritt zur Europäischen Union hat Österreich den Zugang zum Binnenmarkt eröffnet, der in den bisher 25 Jahren unserer Mitgliedschaft rege genutzt wurde. „Weil mehr als 70 Prozent des Außenhandels mit anderen EU-Staaten stattfindet, haben wir großes Interesse, dass sich die gesamte EU wirtschaftlich gut entwickelt. Leider profitieren nicht alle vom erwirtschafteten Wohlstand“, sagt AK-Präsident Dr. Johann Kalliauer. Was es dringend braucht, sei eine korrigierende Politik – in den einzelnen Mitgliedsstaaten und auch auf EU-Ebene. Kalliauer: „Wir haben uns seit dem Beitritt Österreichs dafür eingesetzt, die soziale Dimension der EU zu stärken.“

In der gesamten EU sind aktuell – nach Jahren günstiger Konjunktur – immer noch 15,6 Millionen Menschen (6,3 Prozent aller Erwerbstätigen) arbeitslos. 2018 waren EU-weit rund 22 Prozent der Bürger/-innen von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Dieses Ungleichgewicht zwischen den Staaten wird bei der Arbeitslosenquote deutlich. Das Spektrum reicht von 2,1 Prozent in Tschechien über 4,5 Prozent in Österreich bis zu 16,7 Prozent in Griechenland (August 2019).

Wichtig sei eine Balance zwischen wirtschaftlicher, sozialer und politischer Dimension der Gesellschaft. „Hinkt die soziale Dimension hinterher, wirkt sich das auch negativ auf die Wirtschaft aus“, so Kalliauer. Eingetrübte Konjunktur, geringe bis negative Zinsen, eine an ihre Grenzen stoßende Geldpolitik: Das alles spricht ganz klar dafür, öffentliche Investitionen zu forcieren. Etwa den sozialen Wohnbau, Bildung, Forschung, Digitalisierung, nachhaltige Mobilität und erneuerbare Energien. Kalliauer: „Nur so können wir eine langfristige Basis für eine sozial und wirtschaftlich starke EU schaffen.“

Da die Kaufkraft der Haushalte auf gut entlohnten Arbeitsplätzen und sozialer Sicherheit basiert, sei es Gebot der Stunde, die Löhne nach oben anzugleichen und die Lohnquoten zu verbessern. Dazu müssen auf EU-Ebene Gewerkschaften und Kollektivvertragssysteme gestärkt, die Autonomie der Sozialpartner gesichert sowie gleiches Entgelt für Frauen und Männer eingefordert werden (durch verbindliche Vorschriften zur Lohntransparenz).

Ein wichtiger Punkt sei auch, endlich die bestehenden Steuergesetze durchzusetzen. Die EU-Kommission beziffert die durch Hinterziehung und Vermeidung von Mehrwertsteuer verursachte Steuerlücke auf jährlich 147 Milliarden Euro. Im Vergleich dazu machte das Budgetdefizit aller EU-Staaten 2018 nur 114 Milliarden Euro aus. „Wenn auch der ruinöse Steuerwettbewerb gestoppt wird, machen wir einen großen Sprung in Richtung sozialen Fortschritt“, sagt AK-Präsident Kalliauer.

„Gold plating“-Diskussion
Für Univ.-Prof. Dr. Franz Leidenmühler, den Vorstand des Instituts für Europarecht an der Johannes-Kepler-Universität Linz, stellt die Arbeitnehmerfreizügigkeit, also das Recht in der ganzen EU zu arbeiten und dabei nicht diskriminiert zu werden, die zentrale Errungenschaft dar. Enorm wichtig für Arbeitnehmer/-Innen sei auch das Thema der Binnenmarkt-Harmonisierung, bei der nationale Schutzstandards für Produkte und Dienstleistungen angeglichen werden, und die politisch forcierte „Gold plating“-Diskussion.

Dabei hat die Kommission bei ihren Vorschlägen in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau auszugehen. Leidenmühler: „Das führt dazu, dass in den meisten Staaten die Schutzstandards angehoben werden müssen – was gut ist.“ Einzelne Mitgliedstaaten mit traditionell höheren Standards (welche manipulativ als „Gold plating“ bezeichnet werden) können dadurch aber unter Druck kommen.

In vielen Bereichen bessere Standards
Österreich habe in vielen Bereichen bessere Standards als von Unionsseite zwingend vorgeschrieben. Viele dieser Standards, zum Beispiel im Arbeitnehmerschutz (Jahresurlaub, Arbeitszeit, Mutterschutz), im Verbraucherschutz oder im Umweltrecht, wären durch eine Rücknahme von „Gold-plating“ zu Lasten von Unternehmen gefährdet.

Das EU-Recht verbietet übrigens das sogenannte „Gold plating“ keineswegs – es liegt aber am jeweiligen Mitgliedsstaat, ob diese Möglichkeit in Anspruch genommen wird. „Und da ist nicht einzusehen, warum Österreich die unionsrechtlichen Regelungen, die oft einen Minimalkompromiss zwischen 28 Staaten darstellen, bloß eins zu eins umsetzen sollte. Der eigenständige Gestaltungsspielraum zugunsten höherer Schutzstandards sollte auf jeden Fall genutzt werden“, so Leidenmühler.

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